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Hirnforschung

Die Hirnforschung beschäftigt sich mit der Art wie das Gehirn lernt. Sie gibt der Pädagogik aber auch der Architektur wichtige Hinweise, da auch die Architektur in der Regel unbewusst aufgenommen wird. Nur selten wird die Architektur neben ihrer indirekten Beeinflussung auch zum Thema einer Erörterung oder bewussten Wahrnehmung.

Wenn Architektur bewusst oder unbewusst als Bedeutungsträger wahrgenommen wird, dann gehört Architektur auch zu unserem Lernrepertoire. Wir nehmen Architektur auch als emotionale Botschaft wahr und verknüpfen diese mit unseren Gedanken und unserem Lernen. Für unsere Erinnerung sind die architektonisch geprägten Orte Bausteine unseres Gedächtnisses.

Die Hirnforschung erweist den großen Zusammenhang von Emotion und Rationalität: nachhaltig führt nur das mit Freude gepaarte Lernen zur eigenständigen Weiterentwicklung. Die Angst beim Lernen, die negative Emotion, stoppt die eigenständige Weiterentwicklung der Schüler. Autoritäre Lernstrukturen und Schullandschaften werden den Anforderungen unserer Gesellschaft immer weniger gerecht.

"Die einseitige Ausrichtung auf die Sprache, auf rationales Denken und Argumentieren, wie sie derzeit in Schulen praktiziert wird, kann (...) neurobiologisch nicht begründet werden". (Aus E. Reich "Denken und Lernen", Darmstadt 2005, Seite 157).

Die Hirnforschung sollte auch uns Architekten bestärken, die Wahrnehmung von Schularchitektur und Atmosphären genauer zu berücksichtigen und genauer zu untersuchen.

Was größere Kaufhausketten mit großem Erfolg betreiben – die Schaffung einer Atmosphäre, die Einkaufslust erzeugt – sollte für uns Architekten heißen: wie kann die Schul- und Lernatmosphäre so gestaltet werden, dass eine freudige Lernatmosphäre entsteht.

Die Hirnforschung zeigt dabei, dass die Schaffung von "freudiger Lernatmosphäre" nicht auf den Grundschulbereich beschränkt werden kann. Auch die Schüler der Sekundarstufen haben einen großen Bedarf an einer altersgerechten Atmosphäre, die das individuelle Lernen und die für das Lernen wichtige Kommunikation unterstützt.

Neben der Lernatmosphäre sind die Funktionen des Schulbaus an die Anforderungen moderner Pädagogik anzupassen.

Die Hirnforschung gibt Pädagogen und Architekten richtungweisende Hinweise. Was konkret zu tun ist im Bereich der Pädagogik und der Architektur, darüber sagt die Hirnforschung naturgemäß nichts. In der Autobiografie von Eric Kandel (Auf der Suche nach dem Gedächtnis, München, 2009), einem Nobelpreisträger der Hirnforschung, finden sich mehrere Hinweise, die auch für Architekten von Interesse sind:

Zum Thema Aufmerksamkeit und Lernen führt er aus:
"Habituation ermöglicht es Menschen, auch in lärmenden Umgebungen effektiv zu arbeiten ... Habituation heißt, wiederkehrende Reize zu erkennen, die ohne Gefahr ignoriert werden können". Das Gegenstück zur Habituation ist die Sensitivierung: eine Art gelernter Furcht. (Ebd., S. 187). "Habituation schwächt das Lernen, Sensitivierung stärkt das Lernen." (Ebd., S. 226)
Wie finden lerninduzierte Veränderungen statt? Und wie werden Erinnerungen gespeichert? (Ebd., S. 209)
"Da nun jeder Mensch in einer anderen Umgebung aufwächst und unterschiedliche Erfahrungen macht, besitzt das Gehirn jedes Menschen eine einzigartige Architektur. [...] ...die entscheidenden Mechanismen für die Gedächtnisspeicherung bei verschiedenen Tierarten (wurden) während der Evolution konserviert." (Ebd., S. 240)
"Der Umstand, dass ein Gen angeschaltet werden muss, um eine Langzeiterinnerung anzulegen, zeigt deutlich, dass Gene nicht einfach Verhaltensdeterminanten sind, sondern sie auch auf Umweltreize wie Lernen reagieren." (Ebd., S. 301)
Zur räumlichen Fixierung von Erinnerung schreibt Eric Kandel: "Ich habe den besorgten Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter vor Augen, spüre die Angst in meinem Bauch und die Zuversicht in das Handeln meines Bruders, während der seine Münz- und Briefmarkensammlung an sich nimmt. Sobald ich diese Erinnerungen in den Kontext der räumlichen Anordnung unserer Wohnung einfüge, fallen mir die restlichen Einzelheiten mit erstaunlicher Deutlichkeit ein." (Ebd., S. 306)
(Vgl. Mnemotechnik bei Assmann Gedächtniskunst)
Zur selektiven Aufmerksamkeit heißt es bei E. Kandel:
"Millionen von Eindrücken ... präsentieren sich meinen Sinnen, ohne richtig Teil meiner Erfahrung zu werden. Warum? Weil sie ohne Interesse für mich sind. Meine Erfahrung ist das, worauf zu achten ich bereit bin... Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist. Sie findet statt, wenn unser Geist klar und lebendig einen von mehreren Gegenständen oder Gedanken in Besitz nimmt. Fokussierung, Konzentration des Bewusstseins, das ist der wesentliche Aspekt der Aufmerksamkeit. Sie bedeutet, dass wir einige Dinge außer Acht lassen, um uns anderen richtig widmen zu können." (Ebd., S. 335)
"Das Gehirn übernimmt nicht einfach die Rohdaten, die es von den Sinnen empfängt, und produziert sie getreulich. Vielmehr analysiert jedes Sinnensystem die eintreffenden Informationen, zerlegt sie und rekonstruiert sie dann gemäß den eigenen naturgegebenen Verbindungen und Regeln; Kant lässt grüßen!
Die Sinnensysteme sind Hypothesenerzeuger. Wir begegnen der Welt weder direkt noch exakt, ...sondern mittels eines Gehirns, das mit dem dort draußen durch eine Millionen zarter sensorischer Nervenfasern verbunden ist, unseren einzigen Informationskanälen, unseren einzigen Verbindungslinien zur Realität." (Ebd., S. 402)
..."Die Sinneswahrnehmung ist eine Abstraktion, keine Kopie der wirklichen Welt."
Das Sehsystem: "...Objekte der Wahrnehmung (werden) nicht nur in lineare Segmente zerlegt, sondern ...auch andere Aspekte der visuellen Darbietung – Bewegung, Tiefe, Form und Farbe – werden aufgegliedert und auf getrennte Bahnen ins Gehirn geschickt, wo sie wieder zu einer einheitlichen Wahrnehmung zusammengeführt und koordiniert werden" ...
"Bei der Stabilisierung der inneren Repräsentation des Raumes spielt die Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle." (Ebd., S. 341 ff)

Zur Besonderheit der räumlichen Wahrnehmung führt Eric Kandel aus:
"Anders als Sehen Tasten oder Riechen, die vorverdrahtet sind und auf apriorischer Erkenntnis im Sinne Kants beruhen, stellt die räumliche Karte einen neuen Repräsentationstyp dar, der auf einer Kombination aus apriorischer Erkenntnis und Lernen beruht" (Ebd., S. 335).

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